Fortschritt und Rückschritt

Vorwärts immer, rückwärts nimmer nennt Olav Raschke seine Ausstellung im Künstler-haus Göttingen und bringt damit eine politische Parole des langjährigen Staatsratsvorsitzenden der DDR, Erich Honecker, in Erinnerung. Diese bekam Raschke vermutlich oft genug zu hören, um ihren Wahrheitsgehalt irgendwann einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Dass es so einfach nicht ist mit dem ständigen Vorwärts-schreiten weder im Leben des Einzelnen noch dem der Menschheit, daran gibt es für den Künstler heute keinen Zweifel. Und so kontert er den naiven, hochfahrenden
Optimismus Honeckers nicht allein durch die subtile Skepsis seiner Göttinger Werke, welche die enge dialektische Verknüpfung von Fortschritt und Rückschritt in Geschichte und Gegenwart wie in Kunst und im Leben demonstrieren, sondern auch durch die nicht wegzudenkende Aura des Hauses, in dem er ausstellt. Dort hat einst Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799) gelehrt und gelebt. Er war Mathematiker und Professor für Experimentalphysik, aber auch Aufklärer und der erste große Aphoristiker deutscher Sprache. Gemessen an Lichtenbergs geschliffenen Redeweisheiten wird das ganze Elend der kalauernden Honecker-Rede deutlich, ja, ihr herunter-gekommener verbaler Rückschritt im Predigen eines sozialen Fortschritts. Der erste von fünf Räumen in Göttingen zeigt uns Raschkes Aufnahmen der Ateliers von fünf zeitgenössischen Künstlern. Mit Vorbedacht hat er für seine Bilder Künstler ausgesucht, die in unterschiedlichen Medien arbeiten. Das Atelier ist immer auch ein Porträt des dort Tätigen. In Raschkes Aufnahmen verschwindet indes das Singuläre weitgehend zu Gunsten eines Generischen und macht so einen Paradigmenwechsel deutlich, der seit Marcel Duchamp die Kunst der Gegenwart nachhaltig bestimmt. In allen Aufnahmen sind Tisch und Stuhl in prominenter Weise vorhanden und charakterisieren das zeitgenössische Atelier genreübergreifend als Ort des Denkens. Allerdings war die herausragende Stellung der Idee für das Kunstwerk auch in der Vergangenheit keineswegs unbekannt. Bereits in der Renaissance gab es eine Aufwertung des concetto, der Idee eines Werks, gegenüber der ausgeführten Malerei und damit eine zuvor nicht vorhandene Wertschätzung von Zeichnung und Skizze. Im Entree, in das sich der Besucher, aus dem ersten Raum kommend, zurückwendet, um in die weiteren Räume zu gelangen, präsentiert Raschke sein Porträt des Ateliers eines Malers, dessen Namen ich vergessen habe. Es zeigt im Zentrum der Aufnahme eine Art Denkersessel. Das Buch auf dem Fußboden neben ihm verspricht, seine Leser in die Geheimnisse der Acrylmalerei einzuweihen. Das Bild wirkt auf Eingeweihte wie ein ironisches Selbstporträt des Künstlers, grundiert von tiefen Zweifeln gegenüber der eigenen wie der allgemeinen Zukunft. Auch Olav Raschke hat einmal als Maler angefangen, bevor er sich der Fotografie und konzeptuellen Kunst zuwandte. Die Aufnahme wirkt wie ein vorweggenommenes Epitaph ähnlich dem des englischen Dichters John Keats, der für sich als Grabinschrift die Zeilen vorsah: »Here lies One whose Name was writ in Water.« Hier liegt jemand, dessen Name in Wasser geschrieben ward. Im Hauptsaal des Künstlerhauses hat Olav Raschke eine beeindruckende Installation aufgebaut, die sich die besondere Architektur des Raumes zunutze macht. Die fensterlose Hälfte des sechseckigen Raums ist nahezu vollständig mit Plakaten an den Wandflächen versehen, aus deren Anordnung sich mit ein wenig Fantasie das Heck oder der Bug eines Schiffes formt. Die nautische Assoziation zeigt als sich wiederholendes Ornament in Gestalt eines konstruierten Rasters aus unterschiedlichen Fotoalben-Einbänden, die alle der Schifffahrt, dem Meer und dem Urlaub an der See gewidmet sind. Vor der Plakatwand bedecken goldene Rettungsfolien aus Kunststoff den Fußboden, die ebenfalls an das Meer denken lassen.

Darauf, die Assoziation fortsetzend, eine Reihe schwarzer Autoreifen, von denen einige sich aus bestimmter Perspektive als Sternbild des Großen Wagens lesen lassen. In ihrer Mitte bilden übereinandergeschichtete Autoreifen eine Art Altar. Diese Installation, welcher der Künstler gleichfalls den Titel Vorwärts immer, rückwärts nimmer gegeben hat, eröffnet im Zusammenhang mit dem Thema der Ausstellung einen weiten Hallraum an Verweisen und Anspielungen. Das Schiff war in der Menschheitsgeschichte lange Zeit das Vehikel für Entdeckung und Erkenntnis par excellence und damit für Fortschritt und Aufklärung. Die Entdeckung Amerikas – ohne Schiff undenkbar. Lichtenbergs Schüler, Alexander von Humboldt, war ein großer und bedeutender Forschungsreisender, immer mit dem Schiff unterwegs. Auch Lichtenberg, eher sedentär veranlagt, überquerte zwei Mal den Ärmelkanal per Schiff, um in England den Weltreisenden James Cook und den Erfinder der Dampfmaschine James Watt kennenzulernen. Die Kehrseite solch stolzer Reisen in der Vergangenheit sind die elenden Flüchtlingsboote der Gegenwart. Kaum seetüchtig, führen sie ihre Passagiere immer öfter in den Tod als in die von ihnen erträumte, helle Zukunft. Einer ähnlichen Dialektik unterliegen die Autoreifen. Als Rettungsring oft letzte Hoffnung für Ertrinkende, aber auch letztes Mittel für den hilflosen Protest unterdrückter Menschen, die sie in ihrer Not anzünden, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Dabei galt das Auto, für welches die Reifen metonymisch stehen, in der Gegenart als eines der stolzesten Fortschrittssymbole, bis die Nachrichten über den Ausstoß schädlicher Abgase, welche das Atmen für kommende Generationen schwierig machen, immer dringlicher wurden. En passant sei erwähnt, dass der Künstler in Hannover-Linden am Lichtenbergplatz wohnt, der nicht dem Göttinger Lichtenberg, aber einem seiner direkten Nachfahren gewidmet ist. Er war Bürgermeister in Linden, stolzer Besitzer eines Automobils und nachweislich der erste Verkehrstote in Deutschland. Schiff und Wasser, Auto und Reifen kommen nicht nur in dieser komplexen Installation zusammen, sondern ganz leicht und spielerisch auch in einer von Olav Raschke erworbenen Fotografie vom »Opelbad« in Wiesbaden. Sie hängt zusammen mit anderen Bildern im letzten Raum der Ausstellung. In ihm zeigt der Künstler sein Ideenmaterial und das, was ihm als Referenz und Inspiration gedient hat. Ein Wort zur Rettungsdecke, die ursprünglich aus der Raumfahrt kommt (space blanket). Sie hat eine silberne und eine goldene Seite, je nachdem ob ein Verletzter gewärmt oder gekühlt werden muss. Der Künstler nutzt die Decke in seiner Ausstellung zwei Mal in symbolischer Weise. In der dem Meer gewidmeten Installation verweist ihre goldene Seite auf unterkühlte, in der kalten See treibende Schiffbrüchige, aber auch auf deren Träume von einem besseren Leben. Im ersten Raum mit den Atelieraufnahmen präsentiert uns die Decke in einer begleitenden Installation ihre silberne Seite. Sie dient dort als Teppich für einen Tisch, zwei Stühle und ein Paket. Die Installation prononciert wie die Bilder den Charakter des zeitgenössischen Ateliers als Denklabor. Und demonstriert mit ihrer Decke, dass zum Denken ein kühler Kopf gehört. Sie verweist aber auch auf die Bedeutung von Gespräch und Gedankenaustausch für die Genese der Kunst. Zudem macht das Paket deutlich, dass Ideen kommuniziert und entfaltet werden müssen, vom Künstler wie vom Betrachter, und dass Kunst in der Gegenwart immer häufiger vor Ort und in Zusammenhang mit einem Ort geschaffen wird – wie in Göttingen. Das Paket unter dem Tisch bezeugt nicht nur den nomadischen Charakter gegenwärtiger Kunst, sondern auch eine Dialektik von Zeigen und Verbergen, die ebenfalls den Atelieraufnahmen, den Einbänden der Fotoalben im großen Saal oder den Großbildfotografien der Passbild-Automaten (1999–2000) Raschkes im letzten Raum eingeschrieben ist.

Diese Dialektik ist emblematisch für jede Form von konzeptueller Kunst. Sie führt uns der Künstler auch in drei Videofilmen vor Augen, die er in Form eines bewegten Triptychons in parallelen Bildfolgen präsentiert. Sie zeigen das Geschehen auf Autobahnen. Die Kamera des Künstlers ist dabei ausschließlich auf Lastwagen gerichtet. Wir sehen, was sie als Werbung annoncieren, aber nicht, was sie tatsächlich transportieren. Einmal mehr argumentiert Olav Raschke in Gleichnisform. Das sinnliche oder »retinale« Strahlen der Wirklichkeit, um mit Marcel Duchamp zu sprechen, reicht keineswegs aus, um sie zu erkennen. Inhalte müssen kognitiv, »intelli-gibel« entfaltet werden. Die Ungleichzeitigkeit, mit der sich das Auto des Künstlers fortbewegt, entweder gleichauf mit den Lastwagen, sie überholend oder von ihnen überholt werdend, verdeutlicht in schöner Weise die Inkongruenz von Fortschritt und Rückschritt. Selten ist der Progress linear. Schon Lichtenberg bewegte sich – auch ein großer Geist ist gegen Eitelkeit nicht gefeit – im Krebsgang vorwärts und rückwärts zugleich, um solcherart den Buckel zu kaschieren, mit dem der Unglückliche geschlagen war. Wenn es um Technik allein geht, mag zeitliche Linearität plausibel erscheinen. Aber wenn moralisches und ethisches Handeln zur Bewertung ansteht, gilt immer noch die von Hannah Arendt angestellte Diagnose: Der »Rückfall von Humanität in Bestialität« ist jederzeit möglich. Nach der Tragödie das Satyrspiel. Den folgenden Raum widmet Olav Raschke dem Titel nach Nietzsche. Er nennt ihn Die fröhliche Wissenschaft. Auch das Buch des Denkers aus dem Jahre 1872 ist in Aphorismen abgefasst, insgesamt fast 400 in wechselnder Länge. Es geht in ihm um Denken und Erkennen. Aber es enthält auch das wunderbare Tanzlied An den Mistral, das Zeugnis davon ablegt, dass Nietzsche mit allen Sinnen denkt. Nietzsche nennt Die fröhliche Wissenschaft sein persönlichstes Buch, in dem er etwas Neues wagt gegen die etablierten Denkschulen der Universitäten. Wer dächte da nicht an die Neubestimmung der Kunst durch Marcel Duchamp? Was wir in dem Raum sehen, sind zwölf vom Künstler erworbene Privataufnahmen, von hinten fotografierte Akte reizvoller Frauen aus den vergangenen 60 Jahren. Über ihre Körper hat Raschke verschiedene Kreisschablonen gelegt. Sie exponieren die weiblichen Poansichten in einer zärtlich ironischen Weise, die an Lichtenbergs Gnädigstes Sendschreiben der Erde an den Mond aus dem Jahre 1780 erinnert. Bei ihrem Anblick fallen einem darüber hinaus die Anthropometrien von Yves Klein ein, der schöne Frauenkörper als Pinsel benutzte, oder der Titel eines Theaterstücks von Max Frisch, Don Juan oder die Liebe zur Geometrie. Scheinbar Unvereinbares, oft genug im Widerstreit Verharrendes findet hier zur Allianz: Verstand und Gefühl, Kopf und Körper. Wahrlich eine fröhliche Wissenschaft. Dahinter taucht in einer Scharade auch Marcel Duchamp als Rrose Sélavy auf. Phonetisch aufgelöst, meint der Name seines alter ego: »Eros, cést la vie.« Der Eros als Kraft, die noch Blinde sehend und Lahme gehend macht. Über der Seefahrt steht der strenge Leitspruch: Navigare necesse est. Vivere non est necesse. Hier aber haben wir eine Utopie, um mit ihr durchs Leben zu navigieren. Eine, die wohl auch dem Großen Navigator mit den Kompass-Augen und dem wilden Haar aus der Edition von Olav Raschke zur Ausstellung im Entree des Göttinger Künstlerhauses gefallen dürfte. Und noch dazu eine, die tatsächlich keinen Rückschritt kennt, nur Fortschritt.

Michael Stoeber