Musterhäuser

Das Verhältnis des Fotografen zur Welt ist grundsätzlich ein melancholisches. Nicht allein, weil die Erscheinungen, die er im Bild festhält, Zeugen einer früheren Gegenwart sind, die sich als Gegenwart eben nicht festhalten lässt. »Emanation des vergangenen Wirklichen« hat Roland Barthes das genannt. Der Fotograf weiß darum. Zugleich aber begleitet ihn das Bewusstsein für die ungeklärte Relation von Wirklichkeit und Wahrnehmung. Fotografie ist Projektion und insofern existentielle Metapher für unsere Beziehung zur Realität, die durch die Sinne gefiltert wird. »Melancholie bedeutet, ein Bild der Welt zu lieben, von dem man weiß, dass es nur ein Bild ist.« Die Definition des französischen Autors Yves Bonnefoy wird nirgends sinnfälliger als beim Betrachten alter Fotoalben, den Fragmenten einer fernen Zeit, unserer Rekonstruktion von Erinnerung. Seit Mitte der 1990er Jahre nähert sich Olav Raschke dem Phänomen als Fotograf. Formatfüllend hat er Fotoalben wie geheimnisvolle Relikte aufgenommen, deren schmucke Hülle nichts vom kostbaren Inhalt verrät (Fotoalben, 1996/97). Er hat sie röntgenologisch durchleuchtet und die Bilder in medizinischen Leuchtkästen aufgehängt, als erzähle das schattenhafte Grisaille von den pathologischen Auflösungserscheinungen unseres Gedächtnisses (Revue des Lebens, 1997).Und wie in Puppenstuben wirken seine Interieurs aus Alben, deren heitere Farben im fotografischen Prozess durch Überbelichtung der Aufnahmen wie zersetzt und verblichen sind (Patchwork, 2012). Immer geht es dabei um die Ambivalenz von Außen und Innen, Anwesenheit und Abwesenheit, Vergewisserung und Verlust. Dabei steht Olav Raschke mit seinem Archiv von Fotoalben, das er unermüdlich seit Jahren ergänzt und dem er jetzt durch das Aufspüren eines kommerziellen Anbieters eine Fülle neuer Exemplare hinzufügen konnte, in der Tradition jener Sammler-Künstler, die trotz melancholischen Blicks eher den Ausprägungen der Gegenwart als der Vergangenheit verpflichtet sind. Sein Konzept erinnert an Hans-Peter Feldmann, dessen Zusammentragen von Postkarten, Pin-ups und anonymen Erinnerungsbildchen in poetischen Collagen gipfelt.

Oder an Peter Piller, dessen Sammlung von Zeitungsabbildungen und Agenturfotografien das Absurde im Alltäglichen aufblitzen lässt. Ihnen ist das Prinzip des Ordnens und Kategorisierens gemeinsam, eine Art Ritualisierung des Banalen. Das Individuelle tritt dabei zugunsten des Allgemeingültigen zurück, der Einzelfall wird zum Muster. Wenn Raschke also seine aktuelle Ausstellung in der Städtischen Galerie Kubus Musterhäuser nennt, dann ist der Charme der Mehrdeutigkeit auch dem Umstand geschuldet, dass hier das Triviale dem Idealen verwandt scheint. Die Ästhetik der Masse wird nobilitiert. Für die Installation hat er seine Fotoalben zu Motivgruppen kombiniert und als Poster gedruckt, mit denen er den Innenraum auskleidet. Nahtlos aneinandergefügt, wirken die Fototapeten wie Häuserfassaden mit Aussparungen für Fenster und Türen. Da gibt es die karierten und linierten, die ledernen und geflochtenen, braune,rote, grüne Häuser, 50er-Jahre-Grafik und Tiermotive. Die Anmutung der Oberflächen ist dabei im Detail von geradezu skulpturaler Qualität. Aus der Distanz überwiegt die malerische Wirkung. Von der Tristesse deutscher Vorortsiedlungen ist das Ensemble weit entfernt. Was in einer Phalanx von Einfamilienhäusern schon deshalb beunruhigend wirkt, weil hinter der peniblen Sauberkeit heiler Fassaden das Unheil zu lauern scheint, das hat hier einen beruhigenden Effekt: die Ordnung. Bei Raschke ist sie ein stetes Bemühen. Kein zwanghafter Zustand, sondern ein Widerstand gegen das drohende Chaos. Unregelmäßigkeit bleibt der Regelfall, sowohl in der locker seriellen Anordnung der Alben als auch beim Zustand ihres Materials, den abgestoßenen Kanten und beschädigten Einbänden. Zudem erinnert die harmonische Anzahl seiner zwölf Häuserfassaden nur vage an eine natürliche Ordnung, etwa die von zwölf Monaten, zwölf Sternbildern, zweimal zwölf Stunden. Sie ist vor allem eine Reaktion auf die empfindlich gestörte Symmetrie des offenen Galerieraums. Von den zwölf Oberlichtern sind nur noch elf Fenster sichtbar. Das letzte wird verdeckt durch eine nachträglich abgetrennte Küche.

Konsequent platziert Raschke mitten im Raum ein monumentales Gerüst – zum Tapezieren genauso geeignet wie für Fassadenarbeiten – und fordert den Besucher auf, ein Oberlicht zu erklimmen, hinauszuschauen, das fehlende Fenster zu entdecken. Das Spiel mit Außen- und Innenraum, dem Verbergen und Offenbaren, kennzeichnet grundsätzlich das Verfahren, das Raschke in seinen Arbeiten anwendet. Das trifft auf die Fotoserie geschlossener Garagentore zu, deren vom Blitzlicht erhellte Flächen für den Betrachter zu Leerstellen werden, Platzhalter für das, was sich im Innern befindet (Garagen, 1996/97). Es gilt für die Diaprojektionen von Sperrmüll und Matratzen auf leere Umzugskartons (Ansichten zur Wiederholung des Privaten, 1999). Und auch für die Atelierbilder unbenannter Künstler, deren Studio nichts von dem erahnen lässt, was hier geplant und geschaffen wird: Kunst, die ein Publikum sucht (Ateliers, 2001/02). Die Grenze zwischen intimem und repräsentativem Raum, zwischen privater und öffentlicher Sphäre wird zwar thematisiert, doch bleibt sie rätselhaft unbestimmt. Wer im KUBUS das Gerüst hinaufsteigt, um das zwölfte Fenster zu erspähen, der wird ein weiteres Mal überrascht. Unter der gewölbten Kuppel des Oberlichts zeichnet sich die Silhouette einer kleineren, opaken Kuppel ab. Raschke setzt die legendäre Bauhaus-Leuchte ins Fenster, die Wilhelm Wagenfeld im Sinne der Bauhaus-Idee 1923/24 aus einfachen Grundkörpern gestaltete. Die gläserne Industrieform offenbart ihr Innenleben, das Funktionskabel führt sichtbar durch den transparenten Schaft in den Lampenschirm. Musterhaus trifft Bauhaus, Kunst meets Massenware. Die Raffinesse der Inszenierung aber liegt vor allem im Vexierspiel der Perspektiven. Das nach außen gerichtete Interesse fokussiert den Innenraum. Extraversion, die Konzentration auf äußere Objekte, wird zur Introspektion, zur auf das eigene Bewusstsein gerichteten Beobachtung. Es ist ein melancholischer Blick. »So sehen wir die Welt«, schreibt René Magritte. »Wir sehen sie außerhalb unserer selbst und haben doch nur eine Darstellung von ihr in uns.« Das Bild der Welt, von dem wir wissen, dass es nur ein Bild ist.

Kristina Tieke